Bonuskapitel "Küss mich, solange es schneit"


Die erste Begegnung aus Jans Sicht

von Svenja Lassen


HINWEIS: Um Spoiler zu vermeiden, empfehle ich dir, das Bonuskapi-
tel erst zu lesen, wenn du den Roman beendet hast.

 

Jan

 

Immer diese verflixten Anträge. Warum musste es dem Landwirt so schwer gemacht werden, wenn er auf ökologische Landwirtschaft umstellen wollte? Das Handyklingeln erlöste mich vorerst von dem lästigen Papierkram.

„Jan? Hier ist Tobi.“

„Moin, hast du den Kondensator in Dänemark bekommen?“

„Ja, ich bin schon wieder auf dem Rückweg.“

„Klasse, damit sollten wir die Kühlung wieder zum Laufen kriegen.“

Tobias Albertsen war seit einigen Wochen mein Chef. Seit ich aus Ecuador zurückgekehrt war, leitete ich die Umstellung des Hofes auf einen bio-zertifizierten Betrieb. Aber neben der Arbeit am Schreibtisch sprang ich gerne überall ein, wo eine helfende Hand gebraucht wurde.

Vor meiner Auszeit im Ausland hätte ich das wahrscheinlich nicht getan, da hätte ich exakt das gemacht, was im Vertrag stand: Abläufe optimieren, neuen Betriebszweig planen. Papierkrieg. Meine Zeit auf den größtenteils einfachen Höfen in Südamerika hatte meine Ansichten verändert. Wenn ich den ganzen Tag auf einem Feld, dessen Erde hart wie gepresster Lehm war, verbracht hatte, dort mühevoll Reihe um Reihe mit dem alten Traktor beackert hatte, dann war ich abends erschöpft mit Sonnenbrand auf der Nase und Fingern schwarz wie Kohle auf den Hof heimgekehrt und hatte mich zufrieden gefühlt. Mit mir und der Welt im Reinen.

Doch jetzt war ich froh, in der Nähe von Mina sein zu können.

„Das hoffe ich“, sagte Tobi am anderen Ende der Leitung, während ich in Gedanken in Ecuador war. Ich warf den Stift auf den Schreibtisch und fuhr mir mit der Hand übers Gesicht. Die letzten Nächte waren kurz gewesen.

„Ich bin in ungefähr einer Stunde wieder da, kannst du zu Lene in den Laden gehen? Sie hat mir gerade geschrieben, dass sie die Koffer vom Boden holen will. Ich weiß, das ist echt nicht deine Aufgabe, aber könntest du ihr helfen?“

„Klar, kein Problem“, antwortete ich.

„Danke, Mann, wir sehen uns später.“

Ich legte das Handy beiseite und ließ meinen Blick durch das Fenster des kleinen Büros, das sich im Stallgebäude befand, über den Hofplatz schweifen. Tobis Frau Lene führte direkt neben dem Hof in einem kleinen Reetdachhäuschen ein Geschäft für Brautkleider. Im Januar erwarteten die beiden ihr erstes Kind. Lene fiel es schwer, nicht mehr alles selbst machen zu können, und Tobi zerging manchmal vor Sorge um seine Frau.

Ich beneidete die beiden um die Liebe, die sie verband. Wie es war, der Geburt eines Kindes entgegenzufiebern, erfüllt von Angst und Ungewissheit, aber auch voller Vorfreude auf das Leben, das ein Teil von einem selbst war, das wusste ich. Aber wie es sich anfühlte, die Mutter des Kindes zu lieben – das wusste ich nicht.

Ich erhob mich und machte mich auf den Weg hinüber zum Brautmodengeschäft, um meine Gedanken daran zu hindern, wieder nach Ecuador zu wandern. Zu der einen Frau, die ich liebte – oder besser gesagt geliebt hatte. Denn das war Vergangenheit, abgehakt.

 

Die altmodische Türglocke bimmelte, als ich in den Laden trat. Ich musste meinen Kopf ein Stück einziehen, um ihn nicht an der alten, niedrigen Türzarge des Friesenhauses zu stoßen.

Im Verkaufsraum stand eine Frau, scheinbar eine Kundin, denn sie schaute sich die Kleider an, die zahlreich an den Stangen hingen.

„Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, wo die Chefin ist?“

Die Frau lächelte mich an und deutete dann in den hinteren Bereich, in dem sich eine kleine Küche befand. „Sie ist dort hinten.“

Ich nickte ihr dankend zu und durchquerte den Verkaufsraum.

Lene stand mit dem Rücken zu mir und goss Wasser in Tassen; doch gerade als ich sie ansprechen wollte, stutzte ich: Die junge Frau dort war nicht Lene. Sie war etwas größer und auch die Haare waren heller. Dabei kamen mir die Bewegungen seltsam vertraut vor. Ohne mich bemerkbar zu machen, betrachtete ich sie. Und als sie sich mit dem Tablett in den Händen zu mir umdrehte, blieb mein Herz stehen.

Träumte ich? Oder litt ich so sehr unter Schlafmangel, dass ich halluzinierte? Ich blinzelte. Aber da stand sie.

„Ines?“, entwich mir völlig fassungslos.

Ines schaute vom Tablett hoch und das Entsetzen in ihrem Gesicht traf mich mitten ins Herz. Ihre Gesichtszüge entgleisten. Sofort verlor ich mich in den Tiefen ihrer blauen Augen. Vor Schreck musste ihr das Tablett aus der Hand gerutscht sein, aber erst das Scheppern des Porzellans auf den Boden und Ines’ Aufschrei holten mich zurück ins Hier und Jetzt.

„Haben Sie sich verbrüht?“ Die Kundin trat besorgt näher.

Ich war immer noch unfähig, mich zu bewegen. Wie ein Idiot stand ich da und konnte Ines einfach nur anstarren. Wie oft hatte ich an sie gedacht? Wie oft hatte ich mir vorgestellt, ihre samtig weiche Haut zu berühren, hatte den Klang ihres hellen Lachens in meinem Ohr gehört.

„Nein, alles gut, ich war nur ungeschickt“, erwiderte Ines mit einem Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte. Als sie sich bückte, um die Scherben aufzuheben, kam endlich wieder Leben in meinen regungslosen Körper. Ich beugte mich zu ihr hinunter, ganz automatisch legte sich meine Hand auf ihre, und die Berührung traf mich wie ein Blitz – nein, wie eine Salve von Blitzen.

„Ich mache das schon“, brachte ich rau hervor.

Ines entwand sich hastig meiner Berührung. „Nicht nötig.“ Ihre Stimme war kalt und in ihrem Gesicht war kein freundlicher Zug zu sehen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und so sammelte ich einfach weiter die Einzelteile der Tassen ein, während Ines sich abwendete und in die Küche ging. Dort riss sie wahllos Schränke auf und suchte anscheinend nach einem Wischlappen.

Unsere unerwartete Begegnung schien sie genauso kalt erwischt zu haben wie mich. Aber im Gegensatz zu mir war sie alles andere als erfreut.

Es gab keinen Tag, an dem ich die Entscheidung, derart Hals über Kopf abgereist zu sein, nicht bereute. Aber ich hatte es wieder gutmachen wollen und hatte versucht, in dem Brief alles zu erklären. Sie war es, die entschieden hatte, nicht darauf zu antworten.

Nun brodelten auch in mir Wut und Enttäuschung hoch. Ich atmete tief durch, erhob mich mit den Scherben und trat zu ihr in die kleine Küche, legte die Überreste der Tassen in die Spüle. Sie drehte sich nicht einmal zu mir um.

„Was willst du hier?“ Ihre Stimme war so ablehnend wie zuvor ihr Blick.

Kein „Wie geht’s dir?“ oder „Schön dich zu sehen“. Wie hatte ich mich so sehr in ihr täuschen können?

Humorlos lachte ich auf. „Ich arbeite für Tobias Albertsen“, gab ich ebenso kühl zurück.

Ihr entwich ein undefinierbarer Laut, der gewiss kein Ausdruck von Freude war. Als sie sich endlich umdrehte, waren ihre Augen zu Schlitzen verengt und schauten mich herablassend an. „Und du wusstest nicht zufällig, dass das mein Schwager ist?“ Es war halb Vorwurf, halb Frage.

Verwirrt zog ich meine Stirn kraus. Unterstellte sie mir gerade etwa, ich wäre ihretwegen hier? Moment – Schwager?

„Dann bist du die Schwester von Lene?“, fragte ich ungläubig. Das konnte nicht wahr sein! Das war doch wohl ein mieser Scherz. Gleich würde jemand reingerannt kommen und „Willkommen bei der versteckten Kamera“ rufen.

„Ganz genau“, knurrte Ines und schaute mich an, als wäre das meine Schuld.

Ich verstand nicht, warum sie so ablehnend reagierte. Wir hatten eine wunderschöne gemeinsame Zeit in Ecuador, und eigentlich dachte ich, ihr hätte auch etwas an mir gelegen und sie hatte es sich nur nicht eingestehen wollen. Aber da hatte ich mich wohl getäuscht, sonst hätte sie zurückgeschrieben.

Abwehrend verschränkte ich die Arme vor meiner Brust.

„Ich komme hier aus der Nähe, meine Familie lebt hier, und weißt du was – Ines? Wenn du nicht diese bescheuerte Regel mit dem Lass-uns-im-Hier-und-Jetzt-leben aufgestellt hättest, dann hätte ich es dir auch erzählt.“

Wir lieferten uns ein Blickduell, bis die Kundin hinter mir zögerlich fragte, ob sie einen Termin bekommen könne. Ines schien geradezu erleichtert, sich von mir abwenden zu können, und lief zu dem kleinen Tresen und blätterte im Kalender.

In meinen Ohren rauschte das Blut und mein Herz pumpte wütend in meiner Brust.

Während ich noch dabei war, meine Gefühle zu sortieren, wischte ich den Boden. Die Kundin verabschiedete sich, und am Rande bekam ich mit, wie sie in der Tür mit Lene zusammenstieß. Mein Blick wanderte zu Tobis Frau, blieb aber zuvor an Ines hängen. Mir wurde flau im Magen, denn jetzt fiel mir die Ähnlichkeit zwischen den beiden Schwestern auf und ich fluchte innerlich. Was hatte ich getan, dass das Schicksal mir keine Zeit gab, mich vom letzten Schlag zu erholen, ehe es mich wieder zu Boden stieß? Fast hätte ich gelacht, weil ich gerade tatsächlich auf dem Boden hockte und verdammten Weihnachtstee aufwischte. Zumindest roch das Zeug nach Zimt und Apfel.

„Was ist denn hier passiert?“, fragte Lene erstaunt.

Ehe ich etwas sagen konnte, kam Ines mir zuvor. „Nichts, mir ist nur eine Tasse runtergefallen.“

„Seid ihr zusammengestoßen?“

„So ähnlich“, blaffte Ines.

Seufzend erhob ich mich.

„Es ist meine Schuld, ich habe Ines erschreckt.“

„Ach so“, sagte Lene und ließ ihren Blick prüfend zwischen mir und ihrer Schwester hin und her wandern. Sicherlich war die angespannte Stimmung, die in der Luft hing, nur allzu deutlich zu spüren.

„Dann habt ihr euch schon bekannt gemacht?“, bohrte sie weiter nach.

Während ich noch Luft holte und zu einer Erklärung ansetzen wollte, war Ines wieder schneller.

„Ja“, antwortete sie, als sei damit alles gesagt.

War ich ihr etwa peinlich? Sollte ihre Schwester nicht wissen, dass wir uns weitaus besser kannten, als sie sich vorstellen konnte? Innerlich grollte ich. Zu seinen Taten musste man stehen, das hatte ich selbst erst kürzlich zu spüren bekommen. Ehe ich weiter darüber nachdenken konnte, ergänzte ich lapidar: „Wir kennen uns.“

Dem Blick, den Ines mir daraufhin zuwarf, hätte man sicherlich eine Tötungsabsicht unterstellen können. Was war eigentlich ihr Problem? Ich wurde zunehmend ärgerlicher.

Lenes Gesicht hingegen war offen und freundlich. „Tatsächlich?“

„Wir sind uns mal in Ecuador begegnet“, sagte Ines gequält.

„Ernsthaft? Ihr kennt euch aus Ecuador? Was für ein Riesenzufall!“

Ines wurde blass.

Was war so schlimm daran, ihrer Schwester zu erzählen, dass wir uns kannten?

„Wir haben im letzten Sommer beide auf dem Hof von Judith und Robin gearbeitet“, meldete ich mich nun zu Wort, denn Ines machte nicht den Eindruck, als wollte sie noch etwas dazu sagen.

„Ja, klar!“ Während Lene ganz aufgeregt quasselte, wanderte mein Blick wieder zu Ines. Und neben meinem Ärger über ihr abweisendes Verhalten ließ ihr Anblick eine ganze Reihe von Gefühlen in mir hochkommen, die ich in den letzten Monaten versucht hatte zu verdrängen. In mir vermischten sich Wut, Enttäuschung, Schuldgefühle und der Wunsch, sie an mich zu ziehen und meine Lippen auf ihre zu pressen.

Als Lene sagte, wie schön es sei, dass Ines so kurz vor Weihnachten nun nicht alleine auf dem Hof sei, drückte Ines den Stift so fest auf die Seite des Terminplaners, dass die Spitze abbrach. Ich riss meinen Blick von ihr los und lächelte Lene an.

„Tobi meinte, dass du Hilfe brauchst, deswegen bin ich hier. Ich dachte, du seist im Laden.“ Plötzlich war ich froh, einen Grund zu haben, nicht länger mit Ines in einem Raum sein zu müssen, wo ihre Ablehnung mir die Luft zum Atmen nahm.

 

Nachdem ich Lene bei den Koffern geholfen hatte, setzte ich mich im Stallbüro erleichtert wieder an den Schreibtisch und versuchte, mich auf die Anträge zu konzentrieren. Aber immer wieder ertappte ich mich dabei, wie mein Blick zu dem Brautmodengeschäft hinüberwanderte.

„Erde an Jan!“ Tobi lachte und ich schrak zusammen.

„Sorry, ich war in Gedanken.“ So sehr, dass ich nicht einmal mitbekommen hatte, wie Tobi reingekommen war. Ich schüttelte leicht meinen Kopf, um ihn zu klären.

„Bist du Lene mit den Koffern noch zuvorgekommen?“

Ich nickte.

„Danke, das war echt nett von dir. Ist schließlich nicht unbedingt dein Aufgabenfeld.“ Er grinste entschuldigend.

Ich machte eine abwinkende Handbewegung. „Kein Problem, habe ich gern gemacht.“

„Gut zu wissen, ich habe nämlich noch eine Bitte an dich, die nicht in deinen Aufgabenbereich fällt, aber du hättest dann echt was gut bei mir!“

„Mh? Was denn?“ Meine Gedanken waren bereits wieder hinüber zu Ines in das Brautmodengeschäft gewandert. Ich riss mich zusammen und hörte mir Tobis Anliegen an.

Er wollte Lene mit dem fertigen Kinderzimmer überraschen und bat mich um Hilfe. Ines sollte ebenfalls einspringen.

Ich wollte gerade Einwände erheben, denn mir fielen eine ganze Reihe davon ein – da hörte ich mich sagen: „Ja, kein Problem.“

Tobi schlug mir dankbar auf die Schulter, während ich versuchte, das Gefühl, das sich in meiner Magengegend bemerkbar machte, einzuordnen.

Wieder glitt mein Blick aus dem Bürofenster über den Hofplatz.

Sicherlich war es keine gute Idee, ein Kinderzimmer mit Ines einzurichten, dennoch spürte ich eine kribbelnde Vorfreude in meinem Magen, wenn ich daran dachte, sie wiederzusehen.